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Auszüge aus der Biographie des Webmasters:
 


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  Jürgen Ruszkowski

Meine Autobiographie

Rückblicke

ganz persönliche Erinnerungen an das Werden und Wirken eines Diakons -

trägt den Untertitel

27 Jahre Himmelslotse im Seemannsheim in Hamburg

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-  Jürgen Ruszkowski  - Jürgen Ruszkowski -  

Ein Beitrag aus Band 10

der gelben Buchreihe Zeitzeugen des Alltags von Jürgen Ruszkowski 

Auszüge aus der Autobiographie

Bei der Post in Schwerin

 Nach der Schulentlassung 1950 besorgt mein Vater mir einen Ausbildungsplatz in Schwerin bei der Deutschen Post, wo ich eine zweijährige Lehre im Postdienst absolviere.  Die Woche über lebe ich im Postlehrlingsheim.  Zum Wochenende fahre ich in der Regel nach Grevesmühlen.  Unser Lehrlingsheim in Schwerin-Görries war früher einmal Dienstvilla des Fliegerhorstkommandanten und liegt abseits, ruhig und idyllisch am Ufer eines Sees.  Mit einem guten Dutzend Lehrlingen wohnen wir hier zusammen mit dem Heimleiterehepaar Trulson.  Fast alle Heimbewohner werden als Fernmeldemonteure („Strippenzieher“) ausgebildet.  Nur Ulrich Fentzahn und ich sind „Paketheber“.  Nach einigen Tagen ziehe ich mit Lothar Goeritz zusammen in ein Zimmer.  Der dritte Bewohner unserer Bude ist Dieter Vierus, überzeugter FDJler und Materialist.  Ich muss mich erst in die neuen Verhältnisse einleben.  Die ersten Tage bei der Post sind hart für mich.  In dieser ersten Zeit bin ich recht niedergeschlagen, aber bald habe ich das Tief überwunden.

Zu Beginn der Ausbildung werde ich zur Schweigepflicht vergattert: Ich habe das Postgeheimnis zu wahren, besonders darf niemandem etwas über die Zensurabteilung erzählt werden, die auch für uns Postbedienstete streng tabu ist.  Alle Post kommt sofort nach der Kastenleerung vor dem Stempeln zu der in einem Seitenflügel untergebrachten von der Stasi verwalteten Zensurstelle.  Wir legen die Säcke dort vor die Tür und bekommen sie irgendwann wieder zurück. - In unserem Jahrgang sind wir ungefähr 20 Lehrlinge, Jungen und Mädchen in meinem Alter.  Zweimal wöchentlich haben wir im Postamt Fachunterricht und allgemeinbildende Fächer in der nahegelegenen Kaufmännischen Kreisberufsschule.  Den Fachunterricht erteilt unser pädagogisch sehr befähigter Ausbildungsleiter Hansen.  In Fachkunde ist die „Allgemeine Dienstanweisung“ Grundlage des Unterrichts.  In „Fachgeographie“ lernen wir die Stationen der Eisenbahnstrecken ganz Deutschlands auswendig: im mecklenburgischen Bereich jede Station, im entfernteren Deutschland alle größeren Städte.  In der allgemeinen Geographie werden die vorhandenen Schulkenntnisse weltweit gründlich aufgefrischt und vertieft.  Die praktische Ausbildung erfolgt in unterschiedlichen Abteilungen.  Zunächst bin ich in der Wertabteilung, in der Einschreiben und Wertbriefe gesondert lückenlos nachgewiesen werden, später in der Zustellung, der Briefsortierung, bei der Bahnpost und im Schalterdienst beschäftigt.

Die Werktage verbringe ich in Schwerin.  Morgens versorge ich mich im Lehrlingsheim selber mit Frühstück.  Mittag- und Abendessen bekomme ich in der Werkküche der Post.  Fast jeden Morgen fahre ich früher los, entweder per Fahrrad oder eine Station mit dem Zug, um vor der Arbeit um 7 Uhr im Dom an der „Morgenwache“, einer zehnminütigen Andacht, teilzunehmen, die wir Jugendlichen der Jungen Gemeinde umschichtig selber stehend vor dem Altar halten.  Zum Abschluss singen wir immer den Choral „Erhalt uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn Du unser Gott alleine.“   

Die Tagebuchaufzeichnung von Montag, dem 19. Oktober 1950 beschreibt einen Lehrlingsalltag:

„6.30 Uhr aufgestanden.  Mit dem Rad von Görries nach Schwerin.  Berufsschule: Gegenwartskunde, Betriebswirtschaftskunde, Literaturkunde, Fachkunde: Nummernzettel und amtliche Klebezettel; Erdkunde, Streckengeographie. - Essen in der Werkküche.  Zum Postamt, dort Vati getroffen.  Zum Bahnhof und Antrag auf Arbeiterrückfahrkarten geholt, beim Postamt bestätigen lassen.  Mit dem Fahrrad nach Görries ins Heim zurück.  Keiner im Heim, ich komme nicht hinein.  Zum Abendessen nach Schwerin.  Wieder zurück zum Heim.“

Am 27. Juni 1951 notiere ich: 

„Nun bin ich schon ein eingefleischter Postler.  In Schwerin habe ich mich eingelebt.  Die schwerste Zeit der Anpassung an die neuen Lebensumstände habe ich überstanden.  Leider ist Lothar Goeritz nicht mehr bei uns.  Wegen einer Sonderausbildung als Fernmeldemechaniker musste er nach Dresden übersiedeln, mit ihm auch Dieter Vierus.  Der Jugendkreis, den ich zusammen mit Lothar übernommen hatte, ist vollkommen auseinandergeflogen.  Ich hatte es schon vorher kommen sehen, aber PW ließ nicht mit sich reden.  So ein Kreis braucht Zeit, Geduld und ein ganzes Herz.  Wenn die Zeit fehlt, ist es auch mit dem ganzen Herzen vorbei und die Geduld alleine reicht nicht aus.  Meine Hauptaufgabe besteht jetzt darin, für die Berufsschule zu lernen, um ein gutes Abschlusszeugnis zu bekommen.  Das Posaunenblasen hat seit dem ersten öffentlichen Auftreten erhebliche Fortschritte gemacht.  Es muss jedoch noch viel besser werden.  Bis zum Ende der Lehrzeit will ich ein guter Bläser sein.  Im Augenblick steht der Kirchentag in Berlin im Vordergrund.  Hoffentlich klappt alles mit der geplanten Reise. 

Nachdem wir gut ein Jahr lang in Görries im Lehrlingsheim gewohnt hatten, ziehen die Fernmeldelehrlinge in ein neues Heim um und es kommen im neuen Lehrjahr nur noch Mädchen zur Gelben Post, auch zu uns beiden verbliebenen männlichen Postlehrlingen ins Lehrlingsheim.  

Einige Zeit später beansprucht die sowjetische Rote Armee unser Haus in Görries und stellt uns stattdessen in der Schlossgartenallee, wo sie ein großes Areal von beschlagnahmten Villen räumt, ein Gebäude zur Verfügung.  Hier wohnen wir noch schöner, weil dichter an der Stadt.  Vor unserem Hause vorbei führt die Straßenbahnlinie zur Innenstadt.  Obwohl eine Fahrt nur 20 Pfennig kostet, fahre ich bei gutem Wetter immer mit dem Fahrrad.

24. Oktober 1951:  „Ich bin zur Zeit in der Bahnpost eingesetzt, eine Arbeit, die mir großen Spaß macht.  Normalerweise fahre ich bis Neubrandenburg mit und steige dann in den Gegenzug zurück nach Schwerin.  Einmal blieb ich bis Pasewalk, um im selben Zug auch wieder zurück zu fahren.“

Damals wird alle Brief- und Paketpost in Deutschland noch überwiegend mit der Bahnpost befördert und im Bahnpostwagen von Hand sortiert. Hinter den vier Personen (rechts Jürgen Ruszkowski) sieht man die Sortierfächer.

Krankheit                   

Eines Tages im Winter ziehe ich mir nach einer Radfahrt von Schwerin nach Grevesmühlen bei schlechtem Wetter eine deftige Erkältung zu und erkranke an einer feuchten Rippenfellentzündung.  Monatelanger Krankenhausaufenthalt in Grevesmühlen, ständig erhöhte Temperatur, mehrmals Punktierungen des Exsudats aus dem Rippenfell.  Mit knapper Not überstehe ich die Krankheit.  Eine Kur in Friedrichroda im Thüringer Wald wird mir gewährt.  Nach sieben langen Monaten bin ich endlich soweit, dass ich wieder arbeiten kann.  Welch eine Freude!  Die Kollegen, mit denen ich zusammen gelernt habe, haben zwar schon die Lehrabschlussprüfung hinter sich und verdienen volles Geld.  Ich muss wegen der Krankheitsausfälle noch ein Jahr länger lernen.  Aber das ist alles nicht so schlimm.  Ich bin ja wieder gesund und werde das Verlorene schon nachholen - denke ich.  Plötzlich: Mittelohrentzündung - spezifisch?  Offenbar eine Folge der Rippenfellerkrankung!  Wieder Klinik und Penicillin-Kur, aber kein Erfolg.  Eines Tages bemerke ich am Oberschenkel eine Geschwulst: Es wird wohl ein Furunkel sein?  Vierzehn Tage später dasselbe am Brustbein: eine große, erst feste, dann weicher werdende Beule.  Die Ärzte diagnostizieren eine tuberkulöse Entzündung als Folge der tückischen Rippenfellentzündung.  Tuberkulose gilt noch als fast unheilbare Krankheit.  Ist es eine Knochen- oder Lymphdrüsen-Tbc?  Die Lunge scheint nicht betroffen zu sein.  Wieder Krankenhaus, Heilstättenaufenthalt?  Und der Beruf?  Es gelingt mir, die Ärzte zu überzeugen, dass ich erst einmal die Lehre abschließen müsse, ehe ich für längere Zeit aus dem Ausbildungs- und Arbeitsprozess ausscheide.

Warum? - so frage ich mich.  Weshalb muss das alles sein?  Gesund und froh führe ich meine Arbeit aus.  Wenn auch einmal etwas schief geht, so bin ich doch glücklich, habe meine Pläne, dass ich so schnell wie möglich zur Erreichung meiner mir gesteckten Ziele vorwärts komme.  Dann plötzlich diese schwere Erkrankung!  Ein Fingerzeig Gottes?

Im Januar 1953 werde ich volljährig.  Während die Volljährigkeitsgrenze in Westdeutschland noch lange Jahre bei der Vollendung des 21. Lebensjahres liegt, wird sie von der DDR schon früh auf das vollendete 18. Lebensjahr herabgesetzt.  Als ich dann einige Monate später in den Westen fliehe, bleibt für uns junge DDR-Flüchtlinge die bereits erreichte Volljährigkeit in Kraft.

Es ist Mitte Mai 1953.  Ende Juni soll die Lehrabschlussprüfung stattfinden.  Da kommt ein neues, nicht eingeplantes Hindernis: Der Kirchenkampf spitzt sich zu.  Die evangelische Jugend Junge Gemeinde, gegen Pastoren und Hausväter diakonischer Einrichtungen.  In Nr. 106 der „Ostsee-Zeitung“ vom 7. Mai 1953 hetzt man gegen den Grevesmühlener Pastor Lietz.  In dem Zeitungsartikel wird die Junge Gemeinde als „Spionageorganisation“ und „faschistische Mordorganisation“ bezeichnet.  Auf derselben Seite dieser Zeitung heißt es unter der Überschrift:  innerhalb der DDR wird vom atheistischen Staat als Feind betrachtet und soll ausgeschaltet werden.  Unsere Treffen, die stark bibelzentriert stattfinden, werden von Stasileuten besucht und beschattet.  Man will uns mürbe machen.  In der FDJ-Zeitung „Junge Welt“, aber auch in der „Ostsee-Zeitung“ im Bezirk Rostock erscheinen Anfang Mai 1953 fast täglich Hetzartikel gegen die

„Jugendliche wollen sich nicht missbrauchen lassen

Grevesmühlen.  Immer mehr erkennen die jungen Menschen, dass sie in der Spionageorganisation „Junge Gemeinde“ nichts zu suchen haben.  So erklärt uns die Oberschülerin Erika Beier: „Ich habe in der „Jungen Welt“ gelesen und erkläre hiermit, dass ich aus der „Jungen Gemeinde“ austrete.  Die Jugendfreundin Christa Hecht bemerkt: „Ich bin seit 1952 in der „Jungen Gemeinde“ gewesen.  Nachdem ich ihre schändliche Arbeit zur Kenntnis genommen habe, erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der „Jungen Gemeinde“.  Ähnlich äußerten sich ...“ 

Und so geht es weiter. - Solche erpressten Abwendungsbekenntnisse erscheinen fast täglich in den DDR-Zeitungen.  Auf dem flachen Lande und in den kleineren Städten werden zuerst die christlichen Schüler aus den Oberschulen verwiesen, soweit sie nicht bereit sind, sich öffentlich von der Kirche loszusagen.  Mein Freund Hans Gottschalk ist bereits kurz vor dem Abitur aus der Oberschule entlassen worden.  Noch hält sich die Betriebsleitung bei der Deutschen Post in Schwerin zurück, doch bald wächst der Druck auf sie, und unseren Ausbildern bleibt keine Wahl: Man muss etwas gegen uns unternehmen.  Mehrere Kolleginnen und ich, von denen bekannt ist, dass wir uns zur halten, werden am 13. Mai in Anwesenheit der Ausbilder Hansen, Gerth und Meltz und des Lehrlingsheimleiters Trulson zu einer Besprechung in den Kulturraum des Postamtes zusammengerufen und aufgefordert, eine Resolution zu unterschreiben, in der wir die Junge Gemeinde als „Tarnorganisation der westlichen Imperialisten“ erkennen und uns verpflichten, „deren Machenschaften zu verabscheuen und zu verurteilen“.  Solche „Resolutionen“ aus Schulen und Betrieben findet man ja zu der Zeit fast täglich in den Zeitungen.  Die Kolleginnen bringt man alle dazu, zu unterschreiben.  Ich weigere mich.  Damit ist meine Zukunft besiegelt!  Eine berufliche Zukunft bei der Post gibt es nicht mehr.  Die will ich ohnehin nicht, denn für mich steht sowieso fest, dass ich Diakon werden will.  Dafür benötigte ich jedoch zuvor eine abgeschlossene Berufsausbildung.  Aber mit meiner Erkrankung ist mir auch die Diakonenausbildung verbaut.  Für uns Christen in der DDR gilt die Devise: Trotz Verfolgung durch die staatlichen Organe: Ausharren!  Keine Flucht in den Westen.  Aber welche Perspektiven habe ich in meinem Fall?  Ich wollte nach dem Abschluss der Lehre bei der Post nach Neinstedt im Harz in die Diakonenausbildung gehen, aber die Neinstedter Anstalten sind kurz zuvor verstaatlicht worden.  Hinzu kommt, dass mir bekannt geworden ist, dass im Westen die ersten erfolgversprechenden Medikamente gegen die Tbc auf den Markt gekommen sind.  Ich fahre sofort nach Grevesmühlen, um die Lage mit meinen Eltern zu besprechen.  Mein Vater ist empört.  Er verlangt, dass ich mich anpasse, unterschreibe.  Er ist persönlicher Kraftfahrer des Genossen Vorsitzenden des Rates des Kreises (früher sagte man Landrat). Dieser hatte ihn ohnehin schon mit der kritischen Bemerkung konfrontiert, es sei für einen Parteigenossen ehrenrührig, einen „Kugelkreuzler“ als Sohn zu haben.  „Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen.“  Das Familienklima ist gespannt.  Mutter rät mir zu, in den Westen zu gehen.  Ich habe innerhalb weniger Stunden einen inneren Kampf auszufechten. 


go west

Am frühen Morgen des 14. Mai 1953 steige ich mit nur einer Aktentasche als unauffälligem Gepäck in Grevesmühlen in den Zug, um auf dem Umweg über Neubrandenburg nach Berlin zu fahren.  Die Zonengrenze ist undurchlässig.  Nur das Schlupfloch Berlin ist noch geblieben.  Dort kann man noch ungehindert mit der S-Bahn oder zu Fuß die Sektorengrenze überqueren.  Aber rings um Groß-Berlin herum hat die Volkspolizei einen Kontrollring gelegt.  Viele fluchtverdächtige Reisende werden aus den Zügen geholt und nach Verhören zurückgeschickt.  Falls es in meinem Falle zu einer Kontrolle kommen sollte, will ich zu einer Familienfeier, einer „Silberhochzeit“ zu Verwandten, zur Tante Toni Seth, in Berlin-Treptow.  Ein „Geschenk“ habe ich in der Aktentasche, sonst nur Wasch- und Rasierzeug, nichts was auf eine Flucht hindeuten könnte.  Ich komme aber ungehindert nach Berlin hinein und mit Herzklopfen mit der S-Bahn auch in den Westsektor.  Hier begebe ich mich nach Tempelhof, wo seit Jahren Ulla Schiele, geborene Feilke, mit ihrem Mann wohnt.  Dort bleibe ich die erste Nacht.  Am nächsten Morgen suche ich die kirchliche Beratungsstelle für junge Flüchtlinge aus der DDR auf, deren Adresse ich im Kopf habe.  Ich werde aufgefordert, mir mein Vorhaben doch noch einmal gründlich zu überlegen, es könnten doch nicht alle weglaufen, was solle dann aus der Kirche in der DDR werden.  Dafür hatte ich die Reise nach Berlin nun doch nicht auf mich genommen.  Ich habe mich fest entschieden und bin mir meiner Sache sicher.  So nennt man mir die Anschrift der Kontaktbehörde.  In diesen Wochen und Monaten kommen täglich tausend oder gar mehrere tausend Menschen über Berlin in den Westen.  Ein großer Exodus lässt die DDR ausbluten, bis Ulbricht am 13. August 1961 die Mauer bauen lässt.  Auf dem Messegelände am Funkturm sind in den großen Ausstellungshallen riesige Auffangbüros eingerichtet worden.  Ich kenne das Gelände noch vom Kirchentag in Berlin 1951 her.  Vor zwei Jahren war ich hier gewesen.  So beantrage ich nun die „Notaufnahme“.  Ich bekomme einen „Laufzettel“.  Es beginnt das Stempelsammeln: Einer vom amerikanischen Dienst, der nächste vom britischen, der dritte vom französischen, der vierte von einer ärztlichen Dienststelle.  Ich werde Inhaber eines Gesundheitspasses für Flüchtlinge.  Die ärztliche Untersuchung ist gründlich und bewirkt sofort, dass ich in ein Krankenhaus nach Tegel eingewiesen werde. 

Während meines Aufenthaltes in Berlin werden in der DDR plötzlich die straff angezogenen Zügel wieder gelockert: Der „Neue Kurs“ wird eingeläutet, gemäss dem Motto: Vom großen Bruder lernen.  So etwas gab es in den zwanziger Jahren auch bereits einmal in der Sowjetunion: Die NEP, die „Neue ökonomische Politik“.  Die Verfolgung der Kirche wird abgeblasen, einige Maßnahmen rückgängig gemacht.  Die von den Oberschulen verwiesenen christlichen Abiturienten können ihr Abitur nachholen.  War also meine Flucht umsonst?  Im Hinblick auf meine Heilungschancen durch die neuen Medikamente im Westen war mein Entschluss der einzig richtige.  So bleibe ich, bekomme einen provisorischen Personalausweis der Stadt Berlin und werde am 13. Juni 1953 mit anderen jungen Flüchtlingen von Berlin nach Hannover ausgeflogen und am selben Tage per Autobus in das Durchgangslager Sandbostel gebracht.  Das Lager Sandbostel im Moor bei Bremervörde hatte zur NS-Zeit als Häftlingslager gedient.  Auf der Latrine empfangen mich Sprüche wie: „Erst wenn du in der Fremde bist, weißt du, wie schön die Heimat ist.“  Hier bricht eine Epidemie aus: Typhus oder dergleichen.  Auch ich werde nicht verschont, überstehe es aber schnell.  Eine Quarantäne schließt sich an.  Nach drei Tagen Lageraufenthalt dringen aufregende Meldungen an unsere Ohren:  Die Bauarbeiter der Stalinallee in Ostberlin fühlen sich durch den Neuen Kurs ermutigt und protestieren gegen die hohen Arbeitsnormen.  Daraus entwickelt sich ein Volksaufstand, der auch auf andere Städte in der DDR übergreift.  Auch in Schwerin gibt es Proteste.  Wir kommen kaum noch von den Lautsprechern weg.  Die Russen setzen Panzer ein und wälzen die „von Westagenten angezettelte Konterrevolution“ brutal nieder. 

Stukenbrock

Drei Wochen später werde ich an das Land Nordrhein Westfalen übergeben.  Man bringt uns, wieder per Bus, in das Lager Stukenbrock in der Senne, einer Heidelandschaft zwischen Bielefeld und Paderborn.  Auch hier werden mir noch drei Wochen Quarantäne auferlegt.  Ich komme wieder ins Krankenrevier und finde hier meinen gesundheitlichen Retter.  Der Lagerarzt legt mir die neu auf dem Markt befindlichen Tabletten „Neoteben“ gegen die Tuberkulose in die offenen Wunden am Hals und am Oberschenkel.  Nach einigen Wochen beginnen die Wunden langsam zuzuwachsen. 

Auch dieses Lager hatte bereits zur NS-Zeit als Gefangenenlager gedient.  Ein riesiger benachbarter Russenfriedhof erinnert noch heute an diese Zeit.  In der Nähe des Lagers befindet sich ein großer Truppenübungsplatz der Britischen Rheinarmee.  An das halbe Jahr in der Senne denke ich gerne zurück!  Mit den etwa gleichaltrigen anderen jungen Flüchtlingen unternehme ich in diesem Sommer und Herbst ausgiebige Wanderungen durch das Heidegebiet zur Emsquelle und über den Truppenübungsplatz und durch den Teutoburger Wald zum Hermannsdenkmal.  In der Bastelstube produzieren wir Laubsägearbeiten.  Nach und nach schickt mir meine Mutter einen großen Teil meiner in Schwerin und Grevesmühlen zurückgelassenen Sachen: Bücher, Wäsche und andere Kleidungsstücke.  Das Sozialamt in Paderborn bewilligt mir ein Paar neue Schuhe...


Weinige Jahre nach der Wende trafen wir damaligen Postlehrlinge uns nach vier Jahrzehnten in Schwerin-Zippendorf wieder. Es war für mich ein denkwürdiges Wiedersehen. Auch das Ehepaar Trulson, damals in den 1950er Jahren mit der Leitung des Lehrlingsheims betraut, war wieder dabei.

 

 

 

Das Rauhe Haus in Hamburg in den 1950er Jahren

Im Hans Tanne befanden sich in den 1959er Jahren Leitung und Verwaltung der Anstalt

 

 Hans "Goldener Boden"

 

Haus "Anker"


Diakonenschüler um 1954


Das Rauhe Haus gilt als „Brunnenstube der Inneren Mission“ und ist die Wiedergeburtsstätte des Diakonenamtes in den Kirchen der Reformation nach über tausendjährigem Dornröschenschlaf während der Kirchengeschichte.

 Johann Hinrich Wichern

Wichern hatte diese Anstalt 1833 als junger Kandidat der Theologie mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche gegründet und aufgebaut.

Im Sommer 1834 zog ein Bäckergeselle, namens Josef Baumgärtner, zu Fuß von Basel nach Hamburg, um Wichern als erster Gehilfe für ein mageres Taschengeld von 100 Mark im Jahr bei freier Kost und Logis als Betreuer einer „Knabenfamilie“ zur Hand zu gehen. Nach drei Jahren übernimmt Baumgärtner ein eigenes neu gegründetes Rettungshaus in Mitau im Kurland. Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland ruft und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützen und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt werden, baut er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als Hausväter in „Rettungshäusern“, als Strafvollzugsbetreuer oder als Stadtmissionare in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig sind.

„Treue, gottesfürchtige Männer, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben gegründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt, wünschen wir in Scharen unter das Volk.“

Erst Jahrzehnte später wird man diese „Gehilfen“ entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone nennen.  Heute werden in der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in verschiedenen Studiengängen etwa 500 Studierende ausgebildet.


Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich den Wunsch, Diakon zu werden.

Ich will Diakon werden - Erinnerungen - Band 10...

Auf der Rückfahrt von einer Kur in Westerland nach Stukenbrock am 19. März 1954 unterbreche ich die Reise in Hamburg und besuche den mir bekannten Rauhhäusler Diakon Karl Fischer, der nach dem Kriege als Gemeindediakon in Grevesmühlen gewirkt hatte und nach seiner Rückkehr von Grevesmühlen nach Hamburg wieder als Fürsorger bei der Hamburger Jugendbehörde arbeitet. Mit seinem Motorrad war er jahrzehntelang engagiert in seinem Fürsorgebezirk in Osdorf unterwegs. Nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt habe und die Auffassung vertrete, aus meinen Plänen, Diakon zu werden, werde aus gesundheitlichen Gründen wohl nichts mehr, ermuntert er mich, mich sogleich im Rauhen Haus zu bewerben. Ich habe zwar keinerlei Hoffnung - aber schaden kann es wohl kaum?! Also fahre ich nach Horn und stelle mich vor. Da die Entscheidung nicht am selben Tag gefällt werden kann, bietet mir Bruder Niemer an, im Rauhen Haus zu übernachten, aber nicht, bevor er mit einer Ärztin, Frau Dr. Krüger, abgeklärt hat, ob ich mit meiner Krankheit ein Infektionsrisiko für die Diakonenschüler darstellen könnte, mit denen ich zusammen in einem Raum schlafen soll. Diese Ärztin hält die Einquartierung bei den Brüdern für „...gänzlich unbedenklich, da die Drüsentbc nicht ansteckbar und außerdem nicht überzubewerten sei. Im allgemeinen heile sie völlig aus.“

Schon seit Wicherns Zeiten fühlten sich die Brüderhausleitungen in den Diakonenanstalten „zu einer strengen Auslese des Nachwuchses nach geistlichen und charakterlichen Kriterien“ verpflichtet.

„Die vielbeschworenen „preußischen“ Sekundärtugenden Treue, Opferbereitschaft, Fleiß, Pünktlichkeit, Gehorsam und Bescheidenheit, ergänzt um die „christlichen“ Tugenden der Demut, Züchtigkeit und Mäßigung - das waren bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg die Hauptanforderungen an die Persönlichkeit eines Diakons.“ (Michael Häusler: Dienst an Kirche und Volk / E. Bunke, „Berufskunde“)

So werde auch ich gründlich unter die Lupe genommen. Ich habe einen Lebenslauf zu schreiben. Man gibt mir einen Zeitungsausschnitt, einen Artikel aus dem Feuilleton von einem gewissen Anatol France, den ich mir durchlesen und mir den Inhalt einprägen soll, um ihn dann als Test meiner Merk- und Ausdrucksfähigkeit mit eigenen Worten wiederzugeben. Ich werde von Pastor Donndorf, Diakon Füßinger und Diakon Niemer getrennt nacheinander jeweils in einem kurzen Gespräch in Augenschein genommen. Dann muss ich zu einem Arzt in der Nachbarschaft des Rauhen Hauses, zu Dr. med. Siegfried Spitzner, zu einer Untersuchung. Ich brauche meinen Oberkörper nicht freizumachen. Meine Hemdsärmel habe ich unter der Jacke aufgekrempelt. Genau dort tastet er nach meinen Bizeps. Im Fragebogen des Rauhen Hauses soll angekreuzt werden, ob ich ein leptosomer, pyknischer oder muskulöser Typ sei. Natürlich bin ich bei diesen Bizeps ein „muskulöser“. Ich traue meinen Ohren nicht, als man mir unterbreitet, ich sei als Bewerber akzeptiert und könne zum 1. April 1954 den Dienst als Diakonenschüler aufnehmen. So reise ich hoch erfreut weiter ins Flüchtlingslager nach Stukenbrock, um am 27.3.1954 von dort aus meine offiziellen Bewerbungsunterlagen ins Rauhe Haus nachzusenden.

Am 1. April kehre ich wieder zurück nach Hamburg. Vier Jahre habe ich auf diesen Tag des Eintritts in die Diakonenanstalt gewartet. Nun ist es endlich soweit. Mit mir zusammen treten am 1. April noch zwei weitere Diakonenschüler den Dienst an: Johannes Gebauer und Walter Lorenz. Da ich den weitesten Weg habe, komme ich als letzter der drei, ich bin also der Dienstjüngste.

 

Die Anstaltshierarchie

 

Ja, das Dienstalter spielt 1954 und noch etliche weitere Jahre für die Hierarchie im Rauhen Hause eine entscheidende Rolle. Es herrschen klare Verhältnisse. Der jeweils dienstältere Bruder ist in der Rangordnung dem jüngeren übergeordnet. Ich wage es als Neuling, einen dienstälteren „Bruder“ zu duzen und werde zusammengepfiffen, ob wir denn zusammen im Sandkasten gespielt hätten, er verlange gefälligst, dass ich ihn sieze. Es war Bruno Schulze. Als ich ihn viele Jahre später darauf anspreche, will er es nicht mehr wahrhaben, denn inzwischen unterrichtet er als Professor an der Fachhochschule des Rauhen Hauses im Kreise der von der 68er-Bewegung geprägten Dozenten und dem Prinzip der Egalität verbundenen emanzipierten „Studenten“. Fünfzehn Jahre später wird man diese von mir vorgefundene und akzeptierte Hierarchie „feudalistisch“ nennen. Aus der Feudalzeit stammen tatsächlich einige gängige Begriffe, die sich aus der wichernschen Epoche herübergerettet haben.

Der leitende Pastor ist der „Direktor“ und er hat tatsächlich eine Position nach Gutsherrenart. Die Brüderhausvorsteher hatten im 19. Jahrhundert und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein eine unangefochtene Patriarchenstellung. Diese galt in einigen Brüderhäusern, die nach dem „Mutterhausprinzip“ arbeiteten, etwa in Nazareth/Bethel, bis in die 60er Jahre mit uneingeschränktem Sendungsprinzip als selbstverständlich, auch für gestandene Männer und bereits examinierte Diakone mit lebenslanger Unterordnung und Gehorsam bei ihrem beruflichem Einsatz. Das Rauhe Haus ist in punkto Sendungsprinzip und freie Stellenwahl Mitte der 50er Jahre schon sehr liberal. Der fertige Diakon kann zwar die Hilfe des Brüderhauses bei Stellensuche und Erstellung des Dienstvertrages in Anspruch nehmen, sich seine Arbeitsstellen aber selbst wählen, soll jedoch laut Brüderordnung das Rauhe Haus über jeden Stellenwechsel informieren.

Die hauptamtlich verantwortlichen Diakone im Rauhen Haus nennen sich „Inspektoren“, ähnlich wie die Verwalter auf einer landwirtschaftlichen Domäne, und sie haben in ihrem Verantwortungsbereich weitreichende Vollmachten. Der für den manuellen Arbeitseinsatz in der „Anstalt“ verantwortliche Bruder wird „Vogt“ genannt und handelt nach den Weisungen des Wirtschaftsinspektors und Konviktmeisters. Es werden also Bezeichnungen benutzt, wie sie in den Gutsverwaltungen bis in diese Zeit hinein üblich waren. Begriffe wie „Mitbestimmung“ sind Mitte der 50er Jahre im internen Bereich des Rauhen Hauses und auch bei den anderen Brüderhäusern völlig unbekannt und undenkbar. Bis zum ersten Weltkrieg hatten auch die fertig ausgebildeten Diakone in den Brüderschaften keinerlei Mitbestimmungsrecht. Alle Entscheidungen trafen die Vorsteher, es waren immer Theologen, selber. Erst mit zunehmender beruflicher und fachlicher Professionalisierung in den 20er und 30er Jahren emanzipierten sich die Diakone, besonders durch die „doppelte Qualifikation“ durch ein staatlich anerkanntes Examen als Wohlfahrts- oder Krankenpfleger von „Gehilfen“ der Pastoren zu einem eigenständigen Berufsstand mit eigenem fachlichen Aufgabenbereich und entsprechendem Standesbewusstsein. Noch Ende der 50er Jahre versuchte ein Pastor in Hamburg-Rothenburgsort, „seinen“ Diakon als persönlichen Aktentaschenträger auf seinen Dienstgängen zu missbrauchen.

Am Tage des Eintritts erhalte ich einen „Laufzettel“, mit dem ich mich bei einigen wichtigen Persönlichkeiten der Anstalt melden muss: Bruder Friedrich Düwel, ein älterer Diakon, verwaltet das Diakonenbüro mit den Brüderakten. Er erzählt mir, dass er Anfang der 20er Jahre zusammen mit Kurt Esmarch das Hamburger Hafenkonzert, die älteste deutsche Rundfunklivesendung, mitbegründet habe. Düwel war wohl früher selber mal zur See gefahren und weiß spannend Seemannsgarn zu erzählen. Außerdem spricht er in der Weise eines Franz von Assisi mit den Vögeln, die vor seinem Bürofenster von den dort rot prangenden Vogelbeeren fressen. - Gerhard Füßinger (*1930) ergänzt dazu: Vor der Kriegszerstörung hatte Bruder Düwel sein Büro im damaligen Wichernhaus mit Erdgeschossfenster in Richtung Straße Beim Rauhen Hause. Vorgelagert war eine mit alten Bäumen bestandene Rasenfläche und rechts vom Fenster befand sich der Weg zur sog. Rosentreppe Beim Rauhen Hause Nr. 13. Bäume und Büsche einschließlich Rosenhecke waren ideale Aufenthalts- und Nistplätze für Vögel. Bruder Düwel hatte unmittelbar vor seinem Fenster - befestigt am Gebäude -, eine große Vogelrinne mit Tränke und Vogelfutterung. Bei offenem Fenster kamen die Vögel, auch die Singvögel, ohne Scheu in sein Büro. An der Wand hing eine große Bestimmungstafel für Vögel. Bei meinem Besuch als Kind habe ich bei ihm viel über Vögel gelernt.

Als Nächstes führt mich mein Weg zu Pastor Gotthold Donndorf, dem Direktor des Rauhen Hauses, einem würdevollen, von liberaler Theologie geprägten Patriarchen, der seit 1939 in diesem Amt ist. Auch „Frau Pastor“ Juliane Donndorf hat ein gewichtiges Wörtchen in der Hierarchie mitzureden. Sie wacht über sittsames und wohlanständiges Benehmen der jungen Brüder, die ja schließlich in der gutbürgerlichen Gesellschaft, von der der kirchliche Betrieb geprägt ist, nicht unangenehm auffallen dürfen. So mancher junge Bruder wird von ihr beiseitegenommen und über falsches Verhalten bei Tisch oder anderen Lebenssituationen aufgeklärt. Pastor Gotthold Donndorf, der Direktor des Rauhen Hauses der 40er und 50er Jahre.

 

erner muss ich zu Bruder Friedrich Jahnke, dem damaligen Brüderältesten, der dieses Amt neben seinem Job als Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerkes und der Inneren Mission in Hamburg ausübt, einem begabten und umsichtigen Mann und Hansdampf in allen diakonischen Gassen, dem die Diakonenschaft berufspolitisch viel zu verdanken hat und der wesentlich an der Emanzipation der Diakone mitgewirkt hat.Jahnke hält sich nur alle paar Tage mal für einige Stunden im Rauhen Hause auf. - Er ist Geburtsjahrgang 1903, Sohn eines Rauhhäusler Diakons, der im Alter von 48 Jahren „an Überarbeitung verstarb“. Daraufhin beschloss Friedrich: „Ich werde, was mein Vater war!“, brach seine Gymnasialausbildung ab und ging ins Rauhe Haus, wo er zeitgleich mit August Füßinger ausgebildet wurde. Friedrich Jahnke war schon zu Beginn der NS-Zeit Landeswart der Bezirksgruppe Hamburg des Deutschen Diakonenverbandes und Wortführer der gemäßigten deutschchristlichen Richtung der Brüderschaft des Rauhen Hauses und hatte auch die später viel gescholtene Ergebenheitsentschließung formuliert, die der Deutsche Diakonentag 1933 an die Reichsleitung der Deutschen Christen richtete:

„Die an der Geburtsstätte des erneuerten Diakonenamtes, dem Rauhen Hause, zum 9. Deutschen Diakonentage versammelten 1000 deutschen Diakone versichern der Reichsleitung der „Deutschen Christen“ ihre Treue und stellen sich geschlossen und vorbehaltlos hinter ihre Führung. Sie erwarten, dass diejenigen Diakone, die sich dieser Bewegung noch nicht angeschlossen haben, ihren organisatorischen Beitritt unverzüglich erklären. - Wir begrüßen den nationalsozialistischen Aufbruch unseres Volkes als eine Gnade Gottes und nehmen mit unserem ganzen Sein, Denken, Fühlen und Wollen daran teil, hoffend, dass nun Volk und Kirche eine lebendige Gemeinschaft werde. Wir bieten der Kirche erneut, wie einst Wichern schon, unseren Dienst an, um im notwendigen Helferdienst am Leben mitzuwirken, dass endlich die deutsche evangelische Volkskirche des Dritten Reiches werde, in der alle evangelischen Deutschen Heimatrecht finden“ (Siehe Martin Häusler: „Dienst an Kirche und Volk“, S. 246).

Nach der anfänglichen Begeisterung der deutschen Diakonenschaft für die nationalsozialistische Bewegung, die insbesondere auf dem Hamburger Diakonentag anlässlich des 100jährigen Jubiläums des Rauhen Hauses 1933 ihren Höhepunkt fand und noch große Hoffnungen - auch für das volksmissionarische Anliegen der Diakone - in die „neue Zeit“ setzte, wollte man später gegenüber dem Machtanspruch der Nazis im Rahmen der „Entkonfessionalisierung“ durch allerlei Anpassungstricks versuchen, der Umklammerung und später der Verstaatlichung des Rauhen Hauses zu entgehen.

Nach dem Kriege ist Jahnke als aktives CDU-Mitglied in der Hamburger Kommunalpolitik stark engagiert. Sein kirchenpolitisches Engagement im Dritten Reich bringt ihm in den 70er Jahren bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erhebliche Vorwürfe ein.

 

Der für alle Ausbildungsbrüder wichtigste Mann ist darnach an der Reihe: Bruder August Füßinger

 

Er verdient besondere ausführlichere Erwähnung, denn er bestimmt als graue Eminenz, Konviktmeister und Erziehungsinspektor, später zeitweise auch als Brüderältester, das Leben im Rauhen Haus und für jeden einzelnen Ausbildungsbruder in jener Zeit entscheidend mit. Nach Meinung des Vorstehers des Rauhen Hauses Mitte der 30er Jahre, Pastor Wegeleben, war August Füßinger schon damals „der ungekrönte König des Rauhen Hauses“. „Fü“, wie wir ihn kurz nennen, wurde am 13.09.1900 in München als Sohn des Maschinenschlossers Otto Fühsinger geboren. Die katholische Familie zog 1904 von München nach Wesermünde-Lehe (heute Bremerhaven). 1914 konvertierte die Familie wegen unüberbrückbarer Streitigkeiten mit dem katholischen Geistlichen und Lehrer und einer nicht gerechtfertigten körperlichen Züchtigung von Sohn August durch diesen. Sie wurde Mitglied der evangelisch-reformierten Gemeinde in Lehe. Dementsprechend hatte August Füßinger profunde Kenntnisse katholischer Dogmen, Riten und Denkungsart, was gelegentlich in Gesprächen angewendet wurde und in seiner Denk- und Handlungsweise auch immer wieder durchbricht. Der Vater Otto Fühsinger war beim Norddeutschen Lloyd tätig und wurde bald Werkmeister. Seine fünf Söhne absolvierten beim Norddeutschen Lloyd eine Lehre. August hatte den Beruf eines Elektromechanikers erlernt und darin fünf Jahre lang gearbeitet. In seiner Freizeit war er für den Christlichen Verein junger Männer (CVJM) tätig und wurde schließlich dessen zweiter Vorsitzender. Der erste Vorsitzende war Pastor Rosenboom, der ihm eine Ausbildung im Rauhen Haus empfahl und ihn auch zu seinem Antrittsbesuch nach Hamburg begleitete.

Ins Rauhe Haus trat August am 1.10.1923 ein. Das Diakonenexamen bestand er am 21.3.1927, wurde am 22.3.1927 Oberhelfer im Rauhen Haus, am 1.10.1927 Anstaltsinspektor und am 1.7.1928 der für die praktische Brüderausbildung verantwortliche Konviktmeister. Er wollte nach seiner Ausbildung nicht im Rauhen Hause tätig sein, da er das Kommen und Gehen seiner potentiellen Vorgänger beobachtet hatte und das Rauhe Haus zu diesem Zeitpunkt praktisch zahlungsunfähig war. Die Anstalt rettete sich durch Landverkäufe (z.B. gegenüber dem Horner Weg 170 - auch den Holtsenhof). Beispielsweise war im großen Speisesaal des Wirtschaftsgebäudes (heute steht dort die Mitte der Wichernschule) nicht genügend Geschirr und Bestecks für alle Essenden vorhanden. Das sofortige Abräumen nach dem Essen war nicht Ausdruck übertriebener Ordnungsliebe, sondern aus der Not geboren. Nach sofortigem Spülen kamen Geschirr und Bestecke sogleich wieder zum Einsatz. Aus dieser Zeit stammt August's extreme Sparsamkeit, die Angst vor Liquiditätsproblemen und vor Zinslasten. Nach seinen Erfahrungen war eine Anstalt wie das Rauhe Haus mit ihrem sehr langsamen Kapitalumschlag nicht in der Lage, Zinsen mit normalen Zinssätzen zu erwirtschaften.

Das Rauhe Haus benötigte damals dringend eines Sanierers mit Härte und Konsequenz und war deshalb auch zu Zugeständnissen bereit. August Füßinger setzte als vermutlich erster Diakon einen unkündbaren Anstellungsvertrag nach Beamtenrecht durch, ein Musterfall für viele spätere Diakonen-Anstellungsverträge.

Das Rauhe Haus war auch eine Ausbildungsstätte für Hauswirtschaft, die unter dem Regiment von Frau Runge stand. Bruder Runge war zu der Zeit als Inspektor im Rauhen Hause tätig. Mädchen aus christlichen Familien wurden dort in allen hauswirtschaftlichen Fächern ausgebildet. Etliche Ehen mit Brüdern sind aus dieser Stätte entstanden, so fand auch August Füßinger hier seine Frau.

Am 23.3.1928 heiratete Augsust Füßinger Elisabeth Holve aus Hemer in Westfalen, die ihm zwei Söhne gebar und ihm fleißig und aufopfernd als Wirtschafts- und Küchenleiterin beruflich zur Seite stand. Fü: „Die Westfalen haben eine hohe Wohnkultur und ihre Frauen verstehen die Kunst, mit wenig gut zu kochen. Ich hielt ja von Natur aus nicht viel von der Einrichtung Ehe, aber als ich 1922 zu einem Besuch in Westfalen war, stand für mich fest: Wenn ich eine Frau heirate, dann nur aus diesem Land.“ „Man hat mir gesagt, mit der Wahl meiner Frau habe ich die größte Leistung meiner Menschenkenntnis erwiesen.“

 

Darüber, wie ich meine Frau kennen gelernt haben soll, erzählt man sich viele Geschichten. So soll ich meine Taschenuhr gezogen und zu ihr gesagt haben: Wenn Sie meine Frau werden wollen, überlegen Sie sich das. Es ist jetzt 9 Uhr. Bis 12 Uhr sagen Sie mir Bescheid.“ - Nach Einführung der Wohlfahrtspflegerausbildung im Rauhen Haus bestand Füßinger das staatliche anerkannte Wohlfahrtspflegerexamen am 13.6.1930.

Die Sanierungsmaßnahmen bezogen sich sowohl auf die Kosten- als auch auf die Einnahmeseite. Beispielsweise wurden alle Gehälter um 10% gekürzt. Mit der Stadt Berlin wurde ein Vertrag zur Aufnahme von Fürsorgezöglingen abgeschlossen, die dann in der Fischerhütte untergebracht wurden. Die Notwendigkeit eisernen Sparens blieb bis weit nach dem 2. Weltkrieg zwingendes Gebot, zumal die Anstalt nach den Bombenschäden fast gänzlich wieder aufgebaut werden musste. Da das Rauhe Haus nach Wicherns Konzeption ein offenes Gelände ohne Einzäunung sein sollte, sich aber langsam Gewohnheitsrechte regen Durchgangsverkehrs zu entwickeln drohten, wurde unter Füßingers Einfluss ein stabiler Eisenzaun rund um das Anstaltsgelände herum gezogen (den der Webmaster Mitte der 1950ger Jahre zeitweilig zu entrosten und neu zu streichen hatte). Sonst ging der weitere Aufbau im Vergleich zu anderen Anstalten (z.B. Alsterdorf) wegen Füßingers Bedenken gegen Kredite und Zinsen sehr langsam voran. Pastor Donndorf war ein begnadeter Spendenwerber , der nach dem Vorsteherwechsel schnell die notwendige Liquidität schaffte. Bezüglich der Kosten war jedoch weiterhin äußerste Sparsamkeit angesagt. Die Arbeitsleistung der Ausbildungsbrüder trug wesentlich dazu bei. Aber auch das von Füssinger und seiner Frau aufgebaute Beziehungsnetz zur Veiling, Gemüsegroßmarkt, Lebensmittelverarbeitern ect. ermöglichte kostengünstigen Einkauf oder kostenfreie Abholung von nicht absetzbarem Obst, Gemüse und anderen Lebensmitteln. Die sofort erforderliche Verarbeitung machte eine große Flexibilität des Speiseplanes wichtig, was öfter zu Differenzen mit Frau Donndorf führte. Eine größere Käsespende aus den USA konnte trotz guter Qualität wegen geschmacklicher Schärfe der Ware nicht in der eigenen Küche verbraucht werden. So wurde sie einer Käsefabrik im Austausch gegen Streichkäse angeboten. Auch bei Personalkosten in Küche und Gartenpflege wurde gespart. Neben Ausbildungsbrüdern wurden behinderte Frauen und Männer durch Vermittlung des beim Arbeitsamt tätigen Bruders Mielenz eingesetzt, gleichzeitig eine sinnvolle Arbeitstherapie für die sonst schwer vermittelbaren Behinderten. Sowohl die Mitarbeiterführung als auch der sparsame Einkauf erforderten vom Ehepaar Füßinger außergewöhnlichen Einsatz.

Diakon August Füßinger ist als Konviktmeister, Erziehungs- und Wirtschaftsinspektor die "graue Eminenz" des Rauhes Hauses der 30er bis 60er Jahre.

 

Füßinger wurde 1933 auf Wunsch des damaligen Vorstehers des Rauhen Hauses, Pastor Fritz Engelke, Parteigenosse der NSDAP und später Kreisamtsleiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Von diesem Ehrenamt trat er 1935 zurück, als es hauptamtlich wurde. Er sah seine Aufgabe im Rauhen Haus. Der Rang "Kreisamtsleiter" konnte ihm jedoch nicht genommen werden, was sich im 3. Reich noch als hilfreich, nach dem Kriege jedoch als nachteilig erwies. Der „Reichsführer“ der Diakone, Fritz Weigt, berief Füßinger 1933 in den „Führerrat“ der Deutschen Diakonenschaft. Michael Häusler kennzeichnet Fü in seiner Studie „Dienst an Kirche und Volk“ als „...einen mit der Kirche verbundenen, aber theologisch indifferenten Pragmatiker, der in der Diakonenschaft wie auch im eigenen Brüderhaus stets auf weitgehende politische Loyalität gegenüber dem nationalsozialistischen Staat drängte... Als Taktiker war er bereit, „alle mögliche Unbill zu schlucken“. „Wenn andere im Himmel Bescheid wissen, dann weiß ich auf der Erde Bescheid.“ Füßinger warnte vor einem voreiligen Abrücken von den Deutschen Christen, denn es sei „für die Kirche entscheidend, ob Hitler auf ihrer Seite steht“, eine Haltung, die er auch innerhalb der deutschen Diakonenschaft vertrat.“ Nachdem das eigene Jungvolk-Fähnlein (Nr.282) unter der Führung des angestellten Fähnleinführers Kakerbeck (?) und die SA-Schar der Brüder unter Leitung von Bruder Koch nicht ausreichten, die Begehrlichkeiten der NS-Funktionäre bezüglich Jugendführung durch das Rauhe Haus zu bremsen, wurde 1937 ein neues Arbeitsgebiet eröffnet. August Füßinger hatte an der Gründung des Altenheimes im Goldenen Boden unter Leitung von Schwester Else Burrow maßgeblichen Anteil. Dieses Arbeitsgebiet war für den auf die Jugend konzentrierten NS-Staat uninteressant. Aber die private Wichernschule, in die viele Eltern, die bezüglich der NSDAP skeptisch waren, ihre Kinder schickten, blieb den Nazis ein störender Faktor. Von außen, aber auch teilweise von innen (z.B. durch den damaligen Schulleiter Ackermann) wurde die Verstaatlichung der Schule betrieben und am 1.01.1939 vollzogen. Füßinger hatte alle Punkte eines Mietvertrages sehr intensiv und zu Gunsten des Rauhen Hauses verhandelt. Dann sollte das Rauhe Haus zu einer SS-Heimschule gemacht werden. Wegen des für den Staat ungünstigen Mietvertrages für die Schule musste zunächst Füßinger ausgeschaltet werden. 1941 wurde er per Seitenwagenmotorrad zur Musterung abgeholt. In seiner Akte beim WBK wurde er als vorbestraft geführt, was zwangsläufig Infanterie und Russlandeinsatz zur Folge gehabt hätte. Aber er fand einen Gesprächspartner, der die üblen Absichten durchschaute, den unehrenhaften Vermerk löschte und ihn für die Marineinfanterie einzog. Dadurch blieb er in Schleswig-Holstein und betrieb unter Nutzung der Erfahrungen aus seinen Lehr- und Berufsjahren beim Norddeutschen Lloyd ein Stromaggregat für die Scheinwerfer der Flugzeugabwehr. An freien Tagen und im Urlaub stand er dem Rauhen Haus zur Verfügung, um zu retten, was noch zu retten war. Jetzt befand er sich unter dem Schutz der Marine und war im Gegensatz zu früher vor weiteren Gestapoverhören einigermaßen sicher.

Wegen seiner Funktion bei der NSV saß er nach dem Zusammenbruch 1945 zwei Jahre bis 1947 bei der britischen Besatzungsmacht im Internierungslager. Im anschließenden Entnazifizierungsverfahren 1947 erhielt er Berufsverbot. Zu dieser Zeit wurde der erste Abschnitt des Goldenen Bodens wieder aufgebaut. Damit August Füßinger dem Rauhen Haus trotz des Verbotes wieder zur Verfügung stehen konnte, hatte ihn der ausführende Bauunternehmer Hammers bis zur Aufhebung des Berufsverbotes angestellt. Bruder Gottfried Scheer, der später mit mir zusammen in Dortmund als Geschäftsführer bei der Inneren Mission arbeitet, steht Fü lange Jahre ablehnend gegenüber und verurteilt besonders sein Verhalten während der NS-Zeit, bis er eines Tages ein Gespräch mit ihm unter vier Augen hat und von Fü Details erfährt, die ihn in seiner Meinung gegenüber Füßinger völlig umschwenken lassen. Fortan redet er nur noch in Hochachtung über diesen Mann.

Füßinger arbeitet unentwegt vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein. Er redet nicht mehr, als er für unbedingt nötig hält und verabscheut unnötiges Geschwätz. Fü ist in der Brüderschaft sehr umstritten. Wegen seiner spröden und konservativen Art und oft wunderlichen Ansichten und Entschlüsse mögen ihn viele seiner Mitmenschen nicht. Sein Gerechtigkeitssinn und sein diakonischer Opfergeist bringen ihm aber auch viel Freundschaft und Anerkennung ein. Etliche ältere Brüder verehren ihn. Akademikern gegenüber ist er sehr skeptisch. Sie müssen ihm ihre Lebenstüchtigkeit in der Praxis erst unter Beweis stellen, bevor er ihre Leistung gelten lässt. - Fü hält viel von Physiognomie und Graphologie. Er schwört bei der Einschätzung ihm bisher unbekannter Menschen auf Lichtbild und Schriftprobe. Eltern, die ihre Söhne dem Rauhen Haus zur Erziehung anvertrauen wollen und sich um einen Platz bewerben, müssen ihm von diesen auch immer Bild und Schriftprobe vorlegen. - Fü ist durch und durch Sicherheitsfanatiker. Als ich ihn später einmal von Soest aus mit dem Auto mitnehme, ermahnt er mich immer wieder, ja nicht so schnell zu fahren, er habe ständig Angst vor einem Unfall. Er selber „schleicht“ als Autofahrer immer und hält den Verkehr hinter sich auf. - Ich kenne ihn nur mit Nickelbrille und in schwarzem Anzug mit schwarzer Krawatte.

Füßinger spricht immer etwas näselnd. Einige seiner Zitate mögen ihn mit seinen eigenen Worten charakterisieren: „Samariter sein wollen mit Rat und Tat: das ist unser Lebenselixier.“ - „Wahrheit ist die beste Taktik.“ - „Leere Töpfe klappern am meisten.“- „Es menschelt überall.“ - „Die Weisheit hat nichts mit Großmächtigkeit zu tun.“ - „Die Demokratie endet an den Mauern des Rauhen Hauses.“ - „Wer gut verheiratet ist, der hat ein natürlich gutes Ansehen.“ „Die Ehe ist die Verknüpfung des Herzhaften mit dem Maßvollen.“ - „Die Vernunftehe richtiger Prägung ist eine Neigungsehe mit sozialer Durchführbarkeit.“ - „Komplikationen in der Ehe kann man nicht zurechtreden, sondern nur zurechtschweigen.“ - „Man soll der Frau immer das letzte Wort, dem Mann aber die letzte Entscheidung lassen.“ - „Der Schrei nach dem Kinde wird bei der Frau nicht verstummen.“ - „Nach dem zweiten Kind hört die Gemütlichkeit auf.“ - Über die Frauen behauptet er: „Sie sagen nicht, was sie denken, und denken nicht, was sie sagen.“ - „Eine gute Frau ist immer schön, auch wenn sie einen Buckel hat.“ - „Die Frau soll im allgemeinen 7 bis 9 Jahre älter als die halben Lebensjahre des Mannes sein.“ - „Im weiblichen Wesen ist eine atmosphärische Kraft vorhanden.“ - „Eine untüchtige Frau ist eine dauernde Missernte.“ - Ein Soll-Zitat: „ Für unsere Brüder haben wir immer Arbeit, und wenn sie einen Haufen Dreck von hier nach dort und von dort wieder nach hier karren müssen.“ Fü machte sich auch gerne das Bismarckzitat zu eigen: „Gelogen wird am meisten vor der Wahl, im Kriege und nach der Jagd.“ - Über sich selber sagte er: „Ich habe ein besonderes Verhältnis zu Metall. Auch wenn ich Millionär wäre, würde ich nur in Metallbetten schlafen.“ - „Ich war in meinem Leben nur bei zwei Arbeitgebern tätig: beim Norddeutschen Lloyd und beim Rauhen Haus.“ - „Ich pflege alle Erfahrungen nur einmal zu machen, wenn ich sie überhaupt an mich herankommen lasse.“ - „Fremde, etwa Mitreisende im Zug, schätzen mich entweder als Pastor oder als Kriminalbeamten ein.“ - „Niemand war in der 130jährigen Geschichte des Rauhen Hauses dort so lange mit Verantwortung tätig wie ich.“ - Von seinen Nachfolgern im Rauhen Haus erwartet er, „...dass sie den jetzigen Status dem Jahre 2000 kräftig entgegenführen.“ -

Am 1. April 1966 traten August Füßinger und seine Frau nach fast 40jähriger aufopfernder Tätigkeit für das Rauhe Haus in den Ruhestand. Ein Zitat im Juni 1966: „Jetzt bemühe ich mich, ein tüchtiger Rentner zu sein.“


 

ach Füßinger ist Bruder Gerhard Niemer auf meinem Rundgang bei den Verantwortlichen an der Reihe. Er wurde 1916 in Cottbus geboren und lernte schon als Kind unterschiedliche soziale Verhältnisse und politische Standpunkte von hart links bis stramm rechts kennen. Seine Jugend verbrachte er in Schlesien und durchlief Anfang der 30er Jahre eine kaufmännische Lehre in einem jüdischen Betrieb. Bruder Niemer ging 1935 ins Rauhe Haus, als es als „völliger Wahnsinn“ galt, eine Diakonenausbildung zu beginnen. Er musste sie wegen Arbeits-, Kriegsdienst und Gefangenschaft in Russland mehrmals unterbrechen und konnte erst nach Kriegsende das Diakonenexamen ablegen. Danach war er als Inspektor für die Finanz- und Büroverwaltung und für die Leitung des Altenheimes im Hause „Goldener Boden“ verantwortlich und trug wesentlich zum Wiederaufbau der Anstalt bei. - Unter seiner Führung soll ich im ersten Ausbildungsjahr oft im Büro beschäftigt werden und in der Krankenstube als Gehilfe arbeiten. Ich werde ihn in seiner korrekten, offenen und ehrlichen Art bald sehr schätzen.


Nach dem Laufzettel muss ich mich anschließend noch beim Vogt melden, der die Einteilung der manuellen Arbeiten im Anstaltsgelände zu erledigen hat. Das Amt wird von einem Diakonenschüler wahrgenommen, damals von Bruder Hans Niethammer. Zum Schluss muss ich noch zu Frau Rottländer, einer Kriegerwitwe aus Köslin in Pommern, die als Wirtschaftsleiterin den Bereich des kurze Zeit später eingeweihten Hauses „Bienenkorb“ mit Waschküche und Nähstube zu verantworten hat.


Auf dem Rüttelrost

Mir wird eine Unterkunft zusammen mit sieben weiteren Brüdern unter dem Dach im 4. Stock des Hauses „Goldener Boden“ zugewiesen. Ich nenne diese Bude scherzhaft „Massengrab“.

 

Mein erster Job ist der eines Trümmerjünglings. Die Kriegsfolgen sind in Hamburg noch allenthalben stark sichtbar, obwohl schon sehr viel wieder neu aufgebaut worden ist. In Hamburg-Hamm gibt es noch Nissenhütten, halbrunde Wellblechbaracken, als Notunterkünfte für Ausgebombte. Am Horner Weg, direkt neben dem Rauhen Hause, lagen bis kurz vor meinem Eintritt noch die Gleise der Trümmerbahn, die den Bauschutt an den Stadtrand befördert hatte.

 

Wie eine Insel des Friedens, so liegt das Rauhe Haus inmitten der Großstadt Hamburg. Im weiten Park rings um den Teich finden wir die Häuser, von alten Linden umgeben.“ So formuliert der damalige Prospekt der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses. Das Rauhe Haus war bei einem Bombenangriff im Juli 1943 wenige Wochen nach der Räumung durch die Innere Mission von Brandbomben fast vollständig vernichtet worden. Da die meisten Häuser nach der Enteignung durch den Staat für eine geplante SS-Heimschule leer standen, war niemand da, der die Brandbomben rechtzeitig hätte löschen können. Von den 28 Anstaltsgebäuden waren bei Kriegsende nur noch vier erhalten, nämlich die Häuser „Tanne“, „Anker“, „Schönburg“ und „Kastanie“. Das Rauhe Haus war durch den Krieg arm geworden. Der Neuaufbau wird zu einem nicht unwesentlichen Teil durch den unermüdlichen Arbeitseinsatz der hauptamtlichen Diakone und der Diakonenschüler ermöglicht. Neu erbaut oder wiederhergerichtet sind bereits die „Johannisburg“, der „Goldene Boden“ und „Ora et Labora“ mit dem noch kleinen Wichernsaal und fragmentarisch die alte Schule mit der Küche im Keller, Speisesaal im Hochparterre und Wohnräumen für zwei Jungenfamilien in den Obergeschossen. Eine Holzbaracke am Teich ersetzt die „Fischerhütte“. Das Haus „Bienenkorb“ ist im Bau. Auch das „alte Rauhe Haus“ war im Kriege zerstört worden. Die restlichen Steine berge ich zusammen mit den Brüdern Lothar Schulz und Udo Pütt. Füßinger will sie später mal bei einem eventuellen Wiederaufbau mit verwenden.

Mehrere Fassaden der ausgebrannten alten Häuser im Anstaltsgelände stehen am Beginn meiner Ausbildungszeit noch und werden von uns Diakonenschülern eingerissen: Ein Seil wird an einem oberen Fenstersims befestigt, etliche Männerarme packen zu und mit „Hau Ruck“ und einer Staubwolke geht die Mauer zu Bruch. Ich sammle die Steine in eine Schubkarre und fahre sie zu einem hohen Haufen zusammen. Ein Brett wird angelegt und mit Kraft geht es mit der Karre bergan. Mit einem Hammer bewaffnet darf ich Tag um Tag, Woche um Woche, von morgens bis abends die Steine vom alten Mörtel befreien. Mein Weg führt also aus dem Sanatorium übergangslos und direkt hinein in härteste Knochenarbeit. Abends und am Sonntag darf ich anschließend bis 22 Uhr Telefonwache an der Zentrale im Haus „Tanne“ machen und alle eingehenden Gespräche vermitteln.

 

ie Führung der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses betreibt die Strategie, den Weizen von der Spreu zu trennen. Wer zu leicht befunden wird, fällt durchs Rüttelrost! Nur handverlesene Männer sollen Diakon werden. Eine harte Schule zum Beginn der Diakonenausbildung ist daher oberstes Gebot. Beim Abbruch der Trümmer der alten Schlosserei (dort befinden sich jetzt die Unterrichtsräume der Fachhochschule) stehe ich an der Rutsche für die Trümmersteine, um diese abzukarren. Dabei geht mir folgendes Bild durch den Kopf: Die Steine werden heil oben in die Rutsche geworfen. Wenn sie unten ankommen, sind sie vom gröbsten Mörtel und Dreck gereinigt, schon durch die Reibung und den Zusammenprall. Aber nicht alle kommen unten heil an. Ein Teil geht entzwei und ist nicht mehr zu gebrauchen. Ebenso ist es mit den jungen Brüdern. Durch die harte Schule in der ersten Zeit fallen alle Illusionen ab. Etliche stehen diese Zeit nicht durch. Sie gehen wieder. Die Austrittsquote liegt zeitweise bei 50 %! Ich bin jedoch durch Gerhard Luckow darauf vorbereitet, dass ich mit einer harten Prüfung meiner Dienstbereitschaft rechnen muss und habe eine starke Motivation mitgebracht. - Später entroste ich wochenlang den das Gelände des Rauhen Hauses umgebenden Gitterzaun und streiche ihn neu an. So viel und so schwer wie in dieser Zeit im Rauhen Haus habe ich bisher noch nie gearbeitet, aber ich gewöhne mich daran. In einem anderen Beruf hätte ich nie so engagiert zugepackt, hier lerne ich das freudige Arbeiten nach Luthers Mönchsmotto: Auch die Arbeit der Magd im Kuhstall kann Gottesdienst sein. Ora et labora! Getreu dem Wahlspruch der Diakonissen nach Wilhelm Löhe:

„Was will ich? Dienen will ich.  Wem will ich dienen?  Dem Herrn in Seinen Elenden und Armen.  Und was ist mein Lohn?  Ich diene weder um Lohn noch Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, dass ich darf.“

Wenn etwa dieser Diakonissenspruch von einigen Diakonenschülern schon seinerzeit kritisch hinterfragt oder das Choralversfragment „Gott soll’n wir billig loben“ spöttisch zitiert wird, so kann ich diese damals für mich blasphemische Haltung nicht nachvollziehen.

Der frühere Leiter der Höheren Fachschule, Peter Stolt, bemerkt dazu:

 

„Über das Phänomen Brüderschaft ist nur richtig zu urteilen, wenn spirituelle Traditionen mit berücksichtigt werden. Für jede Kommunität ist „disciplina“ ein hoher Wert, so hart die Novizen darunter leiden mögen. Die Sache konnte unter patriarchalischen oder faschistischen Vorzeichen Entstellungen erleiden; es sind Schwachpunkte aufweisbar. Doch blieb für die Ära der Brüderschaft, die Anfang der 70er Jahre endete, nicht wenig vom ursprünglichen, heilsamen Sinn kommunitärer disciplina erhalten: Arbeit an sich selbst, Zurückstellung des Ich-Willens unter dem aufmerksamen Blick für andere.“

Ich bekomme zu Beginn der Ausbildung ein Taschengeld von 20,- DM monatlich. Drei Jahre später, im Sommer 1957, werden es schon stolze 35,- DM sein. Davon muss ich Zahnpasta, Friseur, hin und wieder Fahrgeld und Kleidung bestreiten. Meine Eltern unterstützen mich aus der DDR, indem sie mir Unterwäsche und Socken schicken. Aus amerikanischen Kleiderspenden, die das Rauhe Haus zum Anerkennungsentgelt von ein bis zwei Mark je Stück zum Aussuchen anbietet, decke ich mich mit Schlafanzügen, Hosen und einmal sogar mit meinem späteren Hochzeitsanzug, einem abgeschabten schwarzen Kellneranzug, ein. Unterkunft und Verpflegung stellt das Rauhe Haus. Der versicherungspflichtige Wert beträgt 1957 monatlich 72,- DM. Meine Wäsche wird auch kostenfrei gewaschen und gepflegt. Geldprobleme habe ich in meinem Leben, auch bei geringem Einkommen, nie. Über einige Notgroschen verfüge ich immer. Eine asketische Grundeinstellung bringe ich mit. Begierde auf Luxus ist mir stets fremd. Einigen Mitbrüdern ist meine Lebenseinstellung zu „karg“ und „kleinkariert“. Genuss ohne Reue zuzulassen lerne ich erst Jahrzehnte später mühevoll von meiner Frau.

Erziehungsdienst im Rauhen Haus

3. Juni 1955, 23 h: „Stellungswechsel. Ich bin gerade damit fertig, meine Sachen einzuräumen. Soeben bin ich umgezogen. Ab sofort habe ich im Erziehungsdienst zu arbeiten. Meine neue Wirkungsstätte ist die Familie „Kastanie oben“. Bruder Binder ist Familienleiter und Bruder Kreye mit mir Gehilfe. Hoffentlich arbeite ich mich hier gut ein. Gott möge mir Kraft für meinen neuen Dienst schenken, dass ich ihn in rechter Verantwortung tue.“

Wir haben in der „Kastanie oben“ Jungen im Schulalter von etwa 12 bis 15 Jahren zu „erziehen“. Ich selber bin mit meinen 20 Jahren noch dabei, erst langsam erwachsen und reif zu werden. Der Altersabstand zu den uns anvertrauten Jungen ist noch recht gering. Ein natürlicher Respekt ist daher kaum vorhanden und die Autorität muss unter den Gegebenheiten des Rauhen Hauses jeden Tag neu erkämpft werden. Der Erziehungsdienst ist eine Arbeit, die mich stark fordert und formt. Jede Heimerziehung ist problematisch und kann immer nur ein schwacher Ersatz für eine gute Familienerziehung sein. Was in früher Kindheit versäumt oder gar zerstört wurde, ist nur unter großen Mühen wieder zu therapieren. Die Erziehungsarbeit im Rauhen Haus ist in den 50er Jahren unter Füßingers Verantwortung zunächst oft nur Verwahr- und Drillerziehung. Gewöhnung an einen geordneten Tageslauf und an regelmäßige Leistungen in Schule und Familienalltag sind jedoch auch wichtige erzieherische Momente, die man nicht unterbewerten sollte. Dazu gehört es, den Jungen Grenzen zu stecken, und diese werden immer wieder versuchen, die Grenzen auszutesten und in Frage zu stellen. Einige selbst bereits gereiftere Brüder können als Familienleiter mit pädagogischem Eros darüber hinaus auch ein kleines Stück pädagogischen Bezug und Geborgenheit für die Jungen schaffen. Alle geben wir uns aber erdenkliche Mühe in dieser schweren Aufgabe an oftmals in der Entwicklung geschädigten Jungen im schwierigen Pubertätsalter. Zwanzig Jahre später wird man die „Professionalisierung“ der Erziehungsarbeit betreiben und als Fortschritt loben. Ob die für die Kinder und Jugendlichen mehr bringt, ist noch fraglich. - Die Rund-um-die-Uhr-Pädagogik, die damals im Rauhen Haus praktiziert wird, ist für uns Brüder sicherlich sehr anstrengend, für die Jungen aber durchaus von Vorteil. Sie haben über lange Zeitspannen feste Bezugspersonen und sind keinem Erzieherschichtbetrieb ausgeliefert. Und was hat die antiautoritäre Welle der 70er Jahre bewirkt? Haben wir weniger Neurotiker und Straftäter als zur Zeit der „repressiven“ Erziehung?

 

Bruder Walter Mahnke übernimmt wenig später die Familie. Er ist ein recht reifer Mensch, macht seinen „Job“ sehr gut und mit vollem Einsatz, ist pedantisch genau und gerecht und genießt bei den Jungen eine natürliche Autorität.

Einen guten Einblick in den Alltag des Erziehungsdienstes gibt ein Aufsatz, den ich am 9. September 1955 im Deutschunterricht unter dem vorgegebenen Thema schreibe:

Meine Aufgabe als Erziehungsgehilfe bei der Arbeit in einer Jungenfamilie des Rauhen Hauses

„Als Diakonenschüler des Rauhen Hauses stehe ich neben meiner theoretischen Ausbildung in der praktischen Arbeit als Erziehungsgehilfe. In einer Schülerfamilie betreue ich mit zwei anderen Diakonenschülern, die „Brüder“ genannt werden, 19 Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren. - Was bedeutet „Familie“? In der natürlichen Familie sind die besten Erziehungsmöglichkeiten gegeben. Wir versuchen, diese Familie so gut wie möglich zu ersetzen. Es wird uns wohl nicht ganz gelingen; denn uns fehlen ja der Vater und die Mutter. Ein junger Erzieher von ca. 25 Jahren kann auch schlecht den Vater bei dreizehnjährigen Jungen ersetzen. Deshalb soll er den älteren Bruder der Jungen darstellen. Die ganze Jungengruppe zusammen mit den Erziehern bildet so unsere „Familie“. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir Erzieher mit den Jungen zusammen essen, zusammen mit ihnen in einem Zimmer schlafen, überhaupt das ganze Leben gewissermaßen mit ihnen teilen. - Wir bewohnen mit unserer Familie eines der vier Häuser, die den Bombenangriff im letzten Kriege überstanden haben. Es ist also ein älteres Haus, das Haus „Kastanie“. Im oberen Stockwerk stehen uns 9 Räume zur Verfügung. Sieben davon werden von den Jungen bewohnt. In jedem Zimmer stehen zwei bis vier Betten. - Man kann bei unseren Jungen nicht von „schwer erziehbaren“ sprechen, aber doch werden in den meisten Fällen die Eltern nicht mit ihnen fertig und schicken sie dann zu uns. Bei vielen leben die Eltern in Scheidung oder auch getrennt und vertrauen uns ihre Kinder an. Die Jungen besuchen teils die Volks-, teils die Oberschule. Die kleinsten in unserer Familie sind im 6., die ältesten im 9. Schuljahr. - Was ist nun meine Aufgabe in dieser Familie? Ein älterer Bruder, der im letzten Ausbildungsjahr steht, ist bei uns Familienleiter. Mit einem anderen Bruder zusammen stehe ich ihm als Gehilfe in seiner Arbeit zur Seite. Wir haben uns die anfallende Arbeit aufgeteilt, so dass jeder von uns seine Aufgaben hat. Der Familienleiter hat natürlich die Verantwortung für alles und daher auf alles zu achten. Er hat uns Gehilfen sozusagen von seiner Arbeit etwas abgegeben. So kümmert sich der zweite Gehilfe, der schulisch etwas mehr vorgebildet ist als ich, um die Schularbeiten der Jungen und hat nebenbei noch einige andere kleine Aufgaben. Ich habe für die Aufsicht beim Spielen sowie für die Fluraufsicht aufzukommen und bin für die Sauberkeit und Ordnung verantwortlich. So muss ich zum Beispiel prüfen, ob die Jungen morgens ihr Hausgeschäft ordentlich erledigen, muss die Ordnung in den Zimmern und den Schränken überprüfen. Ich muss sehen, dass die Jungen sich regelmäßig und ordentlich waschen, dass sie ihre Schuhe putzen und überhaupt ihre Sachen in Ordnung halten. - Wie sieht nun so ein Alltag für mich in der Familie aus? Morgens um 5.30 Uhr stehe ich auf. Um 6 Uhr, wenn die Jungen geweckt werden, muss ich „einsatzbereit“ sein. Ich halte mich hauptsächlich auf dem Flur auf, sehe hin und wieder in die Zimmer, um nach dem Rechten zu schauen. Die Jungen machen dann die Räume sauber und melden ihr Hausgeschäft bei mir ab. Das geht bis kurz vor sieben Uhr. Dann gehen wir geschlossen in den Esssaal im ehemaligen Schulgebäude zum Frühstück. Bis 8 Uhr sind alle Jungen zur Schule, soweit sie nicht zur Schule müssen, in der „Freizeitfamilie“. Ich selber habe den Vormittag über Unterricht. Komme ich mittags gegen 13 bis 13.30 Uhr aus dem Unterricht, so sind dann auch schon einige Jungen von der Schule zurück. Die übrigen kommen bis 15 Uhr nach und nach an. Dann geht in dieser Zeit immer ein Bruder mit einigen Jungen zum Mittagessen. Von 13 bis 16 Uhr ist die Lernstunde angesetzt, in der die Jungen ihre Schularbeiten machen oder die Aufgaben erledigen, die sie vom Familienleiter zur Übung aufbekommen; denn die meisten unserer Jungen stehen in der Schule sehr schlecht, und wir haben es uns zur Hauptaufgabe in unserer Familie gemacht, die schulischen Leistungen der Jungen zu verbessern, damit sie nach Möglichkeit bessere Zeugnisse bekommen. Denn an den Zeugnissen wird der Erfolg unserer Arbeit von den Eltern doch in erster Linie gemessen. - In dieser Lernstunde muss völlige Ruhe im Hause herrschen. Dafür zu sorgen, ist in dieser Zeit meine Aufgabe. Nebenbei sehe ich auch bei Überlastung der anderer Brüder die Hausaufgaben nach. - Nach dieser Zeit der Anspannung und Konzentration sollen die Jungen sich wieder entspannen können. Sie haben daher die Möglichkeit, von 16 Uhr bis zum Abendessen um 18 Uhr und danach bis 19.30 Uhr draußen zu spielen, sich auf dem Zimmer zu beschäftigen, zu lesen oder was sie sonst wollen. Die Aufsicht dabei führe ich. Um 19.30 Uhr machen sie sich zur Nachtruhe fertig. Es werden die Schuhe geputzt, es wird sich gewaschen, das Zimmer aufgeräumt. Um 20.15 Uhr mache ich den „Stubendurchgang“. Dabei sehe ich, ob alle im Bett liegen und ruhig sind. Bis 20.30 Uhr können die Jungen noch lesen. Jetzt geht der Familienleiter durch die Zimmer, wünscht den Jungen eine gute Nacht und löscht das Licht. Hiernach kommt für mich die letzte Tages-„Arbeit“: Für kurze Zeit muss ich noch auf dem Flur die Ohren spitzen, um zu hören, ob überall Ruhe herrscht, was aber in der Regel der Fall ist. Dann kann ich mich auf „mein“ Zimmer zurückziehen. Dort muss ich aber gut die Lampe verhängen und mich geräuschlos bewegen, um nicht die beiden Jungen zu wecken, die mit mir zusammen in einem Zimmer schlafen. Wenn die Arbeit auch öfter schwer fällt, wenn man oft viel Energie aufwenden muss und der Tag lang ist, so bringt sie doch viel Freude.“

Der Aufsatz wurde vom Dozenten übrigens „gut“ bewertet.


Diakonen- und Wohlfahrtunterricht im Rauhen Haus

Im Jahre 1955 komme ich also doch in den Diakonenunterricht der am 22. August beginnt. Pastor Donndorf hat das Prinzip des Zusammenhangs von Erziehungsdienst und Brüderunterricht in einer Verwaltungsratssitzung mit folgenden Worten beschrieben:

„Die 125jährige Geschichte ist diesen Weg nicht nur aus Tradition gegangen, weil Wichern damals seinen Erziehern für später Arbeit und Brot sichern musste. Brüder dienen in einem stillschweigenden Abkommen, weil sie für ihre Ausbildung keinen Pfennig zahlen. Diakonenausbildung und Erziehungsarbeit sind verflochten wie in einem Teppich. Man kann sie nicht trennen. Im Erziehungsdienst wachsen Dienstwilligkeit und Formniveau. Das ist das ungeschriebene Gesetz aller Diakonenanstalten.“

Neben allgemeinbildenden und praktischen Fächern, wie Schreibmaschine, Posaune, kirchliche Verwaltung, werden wir in den theologischen Disziplinen unterrichtet: Bibelkunde, Altes und Neues Testament, Dogmatik, Kirchengeschichte, Missionskunde, Wortverkündigung, Methodik der Jugendarbeit (bei Hans-Otto Wölber). Der theologische Unterricht dauert zwei Jahre.

Weitere zwei Jahre sind für das sozialpädagogische Studium mit den Fächern Pädagogik, Geschichte der Pädagogik, Psychologie (u.a. bei Dr. Walter Uhsadel), Sozialmedizin, Rechtskunde, Bürgerliches, Jugend- und Sozialrecht, Sozialpolitik, Volkswirtschaft eingeplant.

Vor der Wohlfahrtspflegerprüfung wird uns von Januar bis Mitte März 1958 Gelegenheit gegeben, uns intensiv auf das Examen vorzubereiten. Wir wohnen in dem neu erbauten Wichernhaus im Einzelzimmer.

In einer Beurteilung des praktischen Dienstes vom 23.4. bis 3.6.1955 im Krankenrevier und vom 4.6.1955 bis 30.6.1957 als „Erzieher in einer Schülerfamilie“ für die Zulassung zum Wohlfahrtspflegerexamen ist formuliert:

„Herr R. hat die ihm übertragenen Aufgaben mit Gewissenhaftigkeit, Eifer und Fleiß erfüllt. Seine Arbeit ist gekennzeichnet durch starkes Pflichtbewusstsein. Seine praktische Bewährung war gut. gez. Donndorf“

 

Meine Jahresarbeit zum Thema „Arbeitszeitverkürzung und Freizeitverhalten bei Jugendlichen“ habe ich fertig und abgeliefert.

Am 18. März 1958 bestehen wir das Wohlfahrtspflegerexamen im Hauptfach Jugendwohlfahrtspflege und Sozialpädagogik. Siegfried Strathmeier schneidet als Spitzenreiter ab. Ich bestehe mit dem Ergebnis „gut“. Auch meine Bewährung in der Praxis wird mit „gut“ beurteilt.

Am 18. März 1958 bestehen wir das Wohlfahrtspflegerexamen im Hauptfach Jugendwohlfahrtspflege und Sozialpädagogik. Siegfried Strathmeier schneidet als Spitzenreiter ab. Ich bestehe mit dem Ergebnis „gut“. Auch meine Bewährung in der Praxis wird mit „gut“ beurteilt.+Nach dem Wohlfahrtspflegerexamen werde ich vom 1. April 1958 bis zum 31. März 1959 neben dem Diakonenunterricht im Rauhen Haus als Praktikant in der Hauptkirchengemeinde St. Nikolai am Klosterstern bei Hauptpastor Dr. Hans-Otto Wölber - Hans-Otto Wölber (späterer Bischof) eingesetzt. Nachmittags und abends soll ich mich vor allem um die Jugendarbeit im Jungscharbereich kümmern. Ich baue einen Jungenkreis auf, der sich wöchentlich zu Gruppenstunden trifft und unternehme mit den Jungen Wochenendzelttouren per Fahrrad und Jurtenzelt in Hamburgs Umgebung. Eine längere Ferien-Radtour machen wir von Jugendherberge zu Jugendherberge über Mölln, Ratzeburg, Lübeck in die Holsteinische Schweiz bis nach Plön zum Koppelsberg. Eine Zeltfreizeit organisiere ich im Sommer 1958 in Verden an der Aller im „Sachsenhain“.

Ich helfe auch in anderen Bereichen der Gemeinde mit, soweit es meine Zeit neben dem Unterricht zulässt, organisiere z.B. die Haussammlung für die Diakonie und halte Verbindung zur Patengemeinde in Stralsund. -

Hans-Otto Wölber hatte kurze Zeit vorher die alte Hauptkirchengemeinde vom Hopfenmarkt in der menschenleeren City zum Klosterstern in Harvestehude verlagert, um dort im vornehmen gutbürgerlichen Wohnbereich zwischen Isestraße und Leinpfad an der Alster eine moderne Modellgemeinde aufzubauen. Neben ihm als Hauptpastor sind noch zwei Gemeindepastoren, einer ist Albrecht Nelle, der spätere Rundfunkbeauftragte, eine Gemeindehelferin, eine Gemeindeschwester, ein Verwaltungsmann und ein Küster hauptamtlich tätig. Ein Damenkomitee kümmert sich neben dem Gemeindekirchenrat und den Hauptamtlichen etwa um die geschmackvolle Einrichtung des Gemeindehauses und die Ausrichtung besonderer Veranstaltungen.

Während der Praktikumzeit, die auch als Anerkennungsjahr für die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfeger gewertet wird, besuche ich werktäglich den Unterricht in der D I im Rauhen Haus mit den aus der D II bekannten theologischen Fächern.

Am 16. März 1959 bestehe ich die kirchliche Verwaltungsprüfung, die mir später sogar als die „zweite“ bescheinigt wird. Wir werden auch im Fach „Unterrichtsmethodik“ unterwiesen und halten Lehrkatechesen vor Klassen der Wichernschule. Die Prüfungskatechese halte ich am 22. Januar 1959 über Johannes 4, 1-42 mit einem befriedigenden Ergebnis. Ich bekomme ein Zeugnis über die bestandene Prüfung als Religionslehrer für den kirchlichen Religionsunterricht.

Am 2. März 1959 bestehe ich im Alter von 24 Jahren das Diakonenexamen mit dem Prädikat „befriedigend“, bin nun nach fünf harten Jahren mit der Ausbildung fertig und habe einen von der Kirche und einen vom Staat anerkannten Beruf. Am 21.12.1959 wird mir noch mit einem Ausweis die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfleger bescheinigt. Aus dem oft gehemmten und unsicheren Jüngling ist ein recht selbstsicherer junger Mann geworden.


Heute werden in der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in verschiedenen Studiengängen etwa 500 Studierende ausgebildet.

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